27. Februar 2020

Kommentar zur Freiheit zum Tod

Wir bringen für die Mitglieder von ERAS eine Kopie des Artikels aus der NZZ

Die Freiheit zum Tod ist unantastbar

Was ist höher zu bewerten: Die Pflicht des Staates, das Leben des Individuums zu schützen? Oder das Recht des Individuums, seinem Leben aus eigenem Antrieb ein Ende zu setzen? Die Antwort des Bundesverfassungsgerichtes fällt eindeutig aus. Am Mittwoch erkannten die Richter in Karlsruhe nicht nur, dass Paragraf 217 des Strafgesetzbuches verfassungswidrig sei, sie erklärten ihn auch für nichtig. Damit steht die «geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung» in Deutschland nicht mehr unter Strafe. Endlich.

Das Urteil ist eine entscheidende Zäsur im jahrelang erbittert geführten Streit um die assistierte Sterbehilfe in Deutschland. Es ist eine Bestätigung für diejenigen, die persönliche Autonomie und die Freiheit des Menschen als grundlegende Fundamente westlich-säkularer Gesellschaften verstehen. Und es ist ein Sieg für jene, die das Recht auf den eigenen Tod als zutiefst human begreifen. Denn das Urteil stellt klar: Die Würde des Menschen ist unantastbar, seine Freiheit zum Tod ebenso – und beides ist untrennbar miteinander verbunden. Denn der Staat mag zwischen Wiege und Bahre vieles regulieren, die selbstbestimmte Entscheidung über sein würdevolles Sterben aber steht ausschliesslich dem einzelnen Bürger zu.

Mit einer liberaleren Sterbehilfe-Praxis nähert sich Deutschland nicht nur Ländern wie der Schweiz an, wo diese bereits seit Jahren üblich ist. Damit werden auch jene Palliativmediziner entkriminalisiert, die mit dem 2015 neu geschaffenen Paragrafen 217 in Schwierigkeiten geraten waren. Nicht nur Sterbehilfe-Vereinen, dem eigentlichen Ziel des Gesetzes, sondern auch ihnen konnte «geschäftsmässige» (also auf Wiederholung angelegte) Beihilfe zum Suizid vorgeworfen werden. Ärzten waren damit die Hände gebunden. Todkranke Menschen mussten sich als Sterbetouristen in die Schweiz, nach Belgien oder in die Niederlande aufmachen, wenn sie ihrem Leiden ein Ende setzen wollten. Nun kann ihnen wieder in Deutschland geholfen werden.

Weil das Leben auch an seinem Ende wenig Eindeutigkeiten kennt, behalten die Bedenken der Gegner der Sterbehilfe auch nach dem Grundsatzurteil ein gewisses Gewicht. Kirchen, aber auch Ärztevertreter warnen vor den Geschäftsinteressen einer «Industrie des Todes», vor dem Erwartungsdruck an Sterbende und der drängenden Habgier Verwandter, die auf eine Erbschaft aus sind. Vor allem aber machen sie darauf aufmerksam, dass psychisch Kranke, verwirrte oder verzweifelte Lebensmüde zu Kurzschlusshandlungen neigen könnten. Den Sterbehilfe-Gegnern hält das Verfassungsgericht entgegen, dass aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht folge, dass «der Gesetzgeber die Suizidhilfe nicht regulieren darf». Dahinter steht ein positiver Freiheitsbegriff der Richter: Nicht die absolute Freiheit von Zwängen, sondern erst die Freiheit durch gesetzliche Rahmenbedingungen ermöglicht eine wirklich autonome Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Diese Rahmenbedingungen muss der Bundestag nun schaffen. Wenn es sein soll, mit einer ähnlich scharfen Debatte und einer vom Fraktionszwang befreiten Abstimmung wie 2015 über den nun aufgehobenen Paragrafen 217.

«Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt», schreibt Thomas Bernhard. Der Satz des zeitlebens kränkelnden österreichischen Schriftstellers ist so trostlos wie wahr. Aber mindestens so lächerlich ist alles, wenn man nicht an den Tod denkt. Für jene Menschen, die ein autonomes Leben führen wollen, gehört ein selbstbestimmtes Sterben dazu. Sie haben in Deutschland nun wieder die Möglichkeit, selbst das Heft in die Hand zu nehmen, wenn sie an den Tod denken.

Quelle. Christoph Prantner NZZ 202027 - 11