20. Februar 2020
Wann entscheidet der deutsche Verfassungsrat?
Die Gerüchte verdichten sich.
In den nächsten Wochen wird das Urteil zum Suizidverbotgesetz in Deutschland gefällt.
Immer mehr findet man davon in der Presse.
Es folgt ein Vorabtext aus der NZZ.
Sterben dürfen
In Deutschland schweigt man besser vor der Verzweiflungstat.
An meiner Strassenecke stand immer wieder ein alter Mann in Galoschen und Schlafanzug, der allem Anschein nach seinem Pflegeheim entwichen war und nun versuchte, unter ein Auto zu kommen, was ihm vor allem deshalb nicht gelang, weil er sich nicht schnell genug bewegen konnte. Sobald er mit seinem Rollator bei Rot mühsam zur Strasse hinstrebte, kreischten auch schon die Bremsen, und es war wieder nichts mit dem Aus-dem-Leben-Gehen. Wie oft mag er schon in seinem Pflegeheim versucht haben, Gehör zu finden für seinen Sterbewunsch? Wie oft mag er schon abgewiesen worden sein, bevor er in seiner Verzweiflung versucht hat, irgendwie unter die Räder zu kommen. Und wie viele Menschen in diesem Land wagen es erst gar nicht, diesen Wunsch zu äussern, nur die kleinste Andeutung löst eher Entsetzen als Verständnis aus. In Deutschland schweigt man besser vor der Verzweiflungstat.
Verschweigen, wegsehen, allein lassen: Was ist das für ein traurig hilfloser Umgang mit denen, die aus dem Leben gehen wollen? Die verzweifelt einen Weg suchen und, wenn sie ihn endlich gefunden haben, unkalkulierbare Kollateralschäden hinterlassen? Meine Kollegin hat einer befreundeten Familie ihre dreijährige Tochter anvertraut, wie sie es öfter bei Dienstreisen tat, dann hat sie sich mit drei Flaschen ihres Lieblingslikörs eingeschlossen und den Gashahn aufgedreht. Ihre Nachbarn hatten grosses Glück, dass nicht das ganze Haus in die Luft flog. Der Vater einer Mitschülerin hing eines Mittags tot im Wohnzimmer, seine halbwüchsige Tochter hat ihn entdeckt und hat noch heute Albträume davon. Jeder kennt solche Fälle, nur selten wird davon gesprochen.
Warum können die, die sterben wollen, nicht zu einer seelsorglich kompetenten Beratungsstelle gehen und bitten: «Helft mir, ich will sterben»? So, wie jede Schwangere in Not eine Beratung aufsuchen kann und bitten: «Helft mir, ich will nicht gebären.» Der Schwangeren in Not wird geholfen: mit jeglicher Beratung und Unterstützung, damit ihre Entscheidung frei sei, wirklich frei von äusserer und innerer Bedrängnis. Denn erst dann kann der Abbruch unter Umständen befürwortet werden. Und erst dann soll ein Todeswunsch befürwortet werden. Schwangere Frauen nimmt man ernst, wenn sie gute Gründe haben, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Warum nimmt man Sterbewillige nicht ernst in ihren guten Gründen? Warum dürfen sie nicht aus dem Leben gehen ohne das Stigma des Selbst-Mörders? Ohne mit ihren Verzweiflungstaten sich und anderen unnötiges Leid zuzufügen?
Keine Krankheit
Der Alte ist nicht mehr an der Strassenecke aufgetaucht. Ich stelle mir vor, wie er ruhiggestellt und eingesperrt worden ist, wo man seinen Sterbewunsch nicht gelten lässt. Wo jeden Tag daran verdient wird, dass er die nächsten 24 Stunden lang atmet. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er es bald hinter sich hat.
Um Menschen gegen ihren oft verheimlichten Willen auf dem Niveau von «satt und sauber» am Leben zu halten, wird ein immenser und wachsender Aufwand getrieben, der irgendwo als Profit zu Buche schlägt. Auf eigenen Entschluss aus dem Leben zu gehen: Das ist der Menschenwürde deutlich näher als unter der Minimalversorgung mancher Pflegeheime dem Tod entgegenzuvegetieren.
Neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes nehme ich eine der herumliegenden Zeitschriften zur Hand und lese etwas von Altersdepression: «Es sind oft unerkannte Depressionen, die alte Menschen zu suizidalen Handlungen veranlassen, Depression ist eine Krankheit, die man heilen kann, es gibt . . .» Ich lese nicht weiter. Neben dem Artikel strahlt mich ein rotbäckiges Seniorenpaar an. Ich fühle mich angewidert, weil ich vermute, solche «Ratgebertexte» haben nur den Zweck, ein werbungsförderndes Umfeld für alle möglichen Geriatrika-Anzeigen darzustellen. Sterbenwollen ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Krank ist, wenn man nicht sterben wollen darf. Krank ist dieses Verbot jeglicher Art von Lebensmüdigkeit. Dabei ist das Sterbenwollen ein ebenso natürlicher Wunsch wie der, leben zu wollen. Und beide hängen miteinander zusammen. Das Leben, um jeden Preis erhalten zu wollen, ist die Rückseite von Lebensleere. Ein reiches Leben lässt sich lassen, ein leeres wartet immer auf Erfüllung, bis über den Tod hinaus.
In diesem Zahnarztwartesaal wird mir bewusst, dass an meinem überlangen Alter niemandem gelegen ist ausser den Senioren-Industrien. Die werden für mein pausbäckiges Verdorren jene Staatsmittel verbrauchen, die meine Enkel jetzt so nötig hätten, um unter angemessenen Bedingungen studieren zu können. Ich werde diese Missverteilung gesellschaftlicher Mittel zugunsten von uns Alten nicht ändern können. Aber ich will auch nicht unfreiwillig davon profitieren. Tatsächlich profitieren ohnehin ganz andere, und sie werden mir schon auf die seniorengerechten Sprünge helfen, wenn ich so töricht bin, mein Leben mit ihrer Hilfe über das Ende hinaus verlängern zu lassen.
Ich wäre gern Niederländer, weil ich mit siebzig Jahren gern die Wahlfreiheit des «vollendeten Lebens» hätte. In den Niederlanden denkt man ernsthaft darüber nach, auch gesunden Menschen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, ein selbstbestimmtes Ableben zur Wahl zu stellen. In Deutschland ist man davon weit entfernt. Sterben zu wollen, gehört sich einfach nicht.
Von einem Personenunfall ist die Rede, wenn sich jemand vor den Zug geworfen hat. Doch nicht nur die Bahn verschweigt den wahren Charakter dieser «Unfälle». Unter Journalisten hat sich in Deutschland ein Pressekodex etabliert, zurückhaltend über Schienensuizide und Suizide im Allgemeinen zu berichten. Wegen des sogenannten Werther-Effekts: In der Vergangenheit haben Suizide nach einer ehrlichen Berichterstattung oft zugenommen. So hat sich nach Bahnangaben die Zahl der Schienensuizide nach der Selbsttötung von Robert Enke im November 2009 deutlich erhöht.
Der Ruch des Freitods
Das Sterbenwollen mit allem, was dazugehört, bleibt in diesem merkwürdigen Zwielicht der Illegalität. Wer sterben will, muss seinen Todeswunsch verbergen, denn es gibt niemanden, der ernsthaft darüber reden will. Jedermann erschrickt, rückt ab, niemand lässt sich darauf ein. Wer sterben will, bleibt damit allein, auch mit den Plänen, wie es zu bewerkstelligen sei, sich aus der Welt zu schaffen. Allein wird der Zugfahrplan studiert, allein wird die Strecke inspiziert, allein macht man sich nachts auf den Weg, legt sich auf die Schienen und schiebt den Gedanken an die Folgen weit fort: Wenn man tot ist, kann man nicht mehr verantwortlich gemacht werden für den plötzlichen Zughalt, die Verspätung, das Trauma des Zugführers.
«Wenn der Suizident rechtswidrig und schuldhaft Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, macht er sich laut § 315 StGB wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr strafbar. Der Tod des Suizidenten stellt jedoch ein Verfolgungshindernis dar, was zur Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. III StPO führt.» – Das ist unsere lächerlich hilflose Antwort auf ein tabuisiertes menschliches Bedürfnis.
Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft Deutscher Lokführer einigten sich auf Regelungen für Triebfahrzeugführer: Diesen soll ihr volles Gehalt weitergezahlt werden, wenn sie, traumatisiert durch einen Schienensuizid, berufsunfähig sind. Eine gewerkschaftliche Notlösung, wo eigentlich die Politik gefragt wäre. Den betroffenen Überlebenden wird geholfen, während jede Hilfe zu spät kommt für diejenigen, die aus dem Leben gehen wollten und sich in ihrer Ratlosigkeit vor den Zug legten. Sie hätten unsere Hilfe gebraucht. Vor allem und zuerst unsere Akzeptanz.
Ich will sterben dürfen, wenn ich dafür reif bin. Ich will auf zivilisierte Art sterben, bevor ich an Schläuchen hänge und mich dagegen nicht mehr wehren kann. Und damit tagtäglich das Geld verbrauche, das meine Enkel an ihrem Studienort über den ganzen Monat bringen würde.
Ich halte meinen Wunsch für vernünftig. Doch wenn ich ihn dereinst äussere, werde ich als potenzieller Selbstmörder mit teuren Happypillen gefüttert. Unsere Vorstellungen vom «Selbstmord» stammen aus Zeiten, da Sterben an der Tagesordnung war: hohe Kindersterblichkeit, viele unheilbare Krankheiten, Kriege, Seuchen, Hungersnöte, Mord und Totschlag. Dieser Ruch des Freitods hat sich bis heute erhalten, aber er hat für uns überjährige Alte seinen Sinn verloren. Es ist an der Zeit, über das Gegengewicht nachzudenken, das die Lebenswaage der Generationen so beängstigend hat, ausschlagen lassen. Das Gegengewicht zu einer Last, die wir beschönigend den demografischen Wandel nennen. Wir bilden uns so viel ein auf unsere Freiheit. Warum sind wir in diesen Dingen so unfrei?
Neulich, auf einem Dreitausender in der Schweiz, überstieg ich das eher symbolisch gemeinte Holzgeländer und sah in die Tiefe, die mit wenigen Schritten und ohne weitere Umstände erreichbar war. Ich hätte springen können oder mich einfach fallen lassen. Erstaunt hat mich nicht die sportliche Art, mit der hier vor solchen Abgründen gewarnt wird, sondern die Tatsache, dass ich offenbar auf der Suche bin nach todsicheren Gelegenheiten. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen. Lebensmüde bin ich nicht, meine Tage sind noch prall gefüllt mit Arbeit und Familie. Und doch bin ich offenbar auf der Suche nach einer Chance, beizeiten aus dem Leben zu gehen, solange ich noch selbst darüber entscheiden kann. Als ich abstieg und darüber nachdachte, wurde mir bewusst, wie unwürdig diese heimliche, sogar vor mir selbst verborgene Suche ist.
Der gute Tod
Es ist nicht der Tod, der mich ängstigt. Vor dem Nicht-sterben-Dürfen habe ich Angst und würde meinem Ableben gelassener entgegensehen, wenn ich wüsste, dass ich mit dem Sterbewunsch nicht so allein gelassen werde. Dass mir beim Sterben mit derselben medizinischen Kunstfertigkeit geholfen wird, mit der man mir hülfe, wenn ich krank wäre und Aussicht auf Genesung bestünde. Unsere moderne Medizin schafft Möglichkeiten und Zwänge. Über die Zwänge und die damit zusammenhängenden Tabus, über ein unvernünftiges Sterbeverbot sollten wir nachdenken und reden dürfen. Über den guten Tod, Eu Thanatos, der in Deutschland so einen furchtbaren Nachhall hat.
Ich will meinen Kindern und Enkeln davon erzählen, was es für meine Mutter bedeutet hat, sich über Jahre hin meiner bettlägerigen Grossmutter zu widmen. Wie sie darunter gelitten hat. Wie ihr die Liebe zu ihrer Mutter dabei abhandenkam und sie zuletzt nur noch wünschte, sie könne sie und sich erlösen. Meine Tante hat sich mit weit über achtzig noch die Augen operieren und die Ovarien entfernen lassen, und als ich sie fragte, ob sie das hätte mit sich machen lassen, wenn sie die Wahl gehabt hätte, stattdessen sanft zu entschlafen, tat sie ganz erstaunt über meine Naivität: «Diese Wahl gibt es nicht für meine Generation», sagte sie, «vielleicht für euch Jüngere, zu wünschen wäre es euch.» Davon will ich meinen Kindern erzählen und sie bitten, meinem selbstbestimmten Ableben zuzustimmen. Ich will mich nicht davonstehlen und einen wer weiss wie missratenen Suizid hinlegen, sondern ganz offiziell und mit dem Einverständnis aller, ohne Heuchelei und falsche Tränen in die ewigen Jagdgründe hinübergehen. Ein grosses Fest will ich geben zu meinem Fünfundsiebzigsten, alle Kinder und Enkel will ich einladen, will ihnen verkünden, dass ich morgen nicht mehr leben werde, weil der medizinische Fortschritt nicht nur Leben verlängern, sondern auch schmerzfrei beenden kann. Und weil man nun endlich auch sterben darf, wenn man das will. Dann sollen sie mir Beifall zollen, und ich will es nicht missverstehen als Zeichen, dass sie mich nicht liebhaben, sondern recht verstehen als das Gegenteil. In ein paar Jahren hoffe ich, sind wir auch in Deutschland so weit.
Quelle: Martin Ahrends NZZ 20200220
Martin Ahrends ist Journalist und Schriftsteller.
Zuletzt erschien von ihm der Roman
«Der märkische Radfahrer (2017)