25. August 2017
Ein Plädoyer für die Autonomie
Frei entscheiden. Verantwortlich handeln.
Autonomie ist heute kein unhinterfragtes Ideal mehr.
Aber ohne die Möglichkeit zum selbstbestimmten Entscheiden kann auch das Verantwortungsbewusstsein nicht wachsen.
Gedanken von Frank Furedi in der Neuen Zürcher Zeitung.
Das Verhältnis heutiger Gesellschaften zu den Idealen von Autonomie und Selbstbestimmung ist paradox. Rhetorisch werden diese Werte mit schöner Regelmässigkeit als Fundament jeder liberalen Demokratie beschworen. In der Praxis aber wird das Prinzip der Autonomie oft in den Bereich der Mythen verwiesen oder zumindest in den Graubereich der weniger vordringlichen Anliegen relegiert.
Einst wie heute machen die Kritiker der Autonomie geltend, dass der Normalbürger nicht über die Zeit, die Fähigkeiten und die Ressourcen verfüge, die ein selbstbestimmtes Leben möglich machen würden. Der Übermacht der Medien und der Ideologien oder dem Einfluss der Konsumgesellschaft habe der Einzelne nicht genug entgegenzusetzen, um unabhängig und im Sinne seiner eigenen Interessen handeln zu können. Beharrlich werden diese antiliberalen Argumente gegen aufklärerische Denker abgefeuert.
Optimistisches Menschenbild
Das vom Ideal selbstverantwortlichen Handelns getragene Menschenbild hat sich im Lauf der Jahrhunderte konkretisiert; Autonomie bedeutet dabei den Ausdruck der individuellen, subjektiven Persönlichkeit. Die Herausbildung dieser Idee ging mit der Überzeugung einher, dass menschliches Handeln nicht ausschliesslich durch äussere Kräfte bestimmt ist. Im 18. Jahrhundert verband sich das optimistische Menschenbild der Aufklärung mit einer Moralvorstellung, die davon ausging, dass Autonomie – die Ermächtigung des Individuums zum freien Entscheiden – eine Grundbedingung für das Wohlergehen der Menschheit sei.
Die Aufklärung betrachtete die Autonomie als Attribut eines Menschen, welcher der Welt als aktives, vernünftig reflektierendes und bewusstes Individuum entgegentritt. Der Begriff, der sich aus dem griechischen »autos» (selbst) und »nomos» (Gesetz, Brauch) zusammensetzt, fand zuerst in den Stadtstaaten der griechischen Antike Verwendung; laut einer Quelle besass eine Stadt autonomia, wenn die Bürger selbst über die Gesetze bestimmen konnten und nicht einer fremden Macht unterworfen waren.
Dieses Konzept wurde im Rahmen der rationalistischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts vertieft und erweitert. Im Glauben an die transformierende Macht der Vernunft bildete sich die Vorstellung heraus, dass jeder Mensch die Fähigkeit zum Verständnis moralischer Werte in sich trage.
Zum autonomen Individuum gehört auch die moralische Unabhängigkeit – die Fähigkeit, aus sich selbst heraus moralisch verantwortlich zu handeln. Voraussetzung dafür ist, dass Menschen in Freiheit über die Ideen und Meinungen reflektieren und urteilen können, mit denen sie konfrontiert werden. Ronald Dworkin drückt das folgendermassen aus: «Eine Regierung beleidigt ihre Bürger und negiert deren moralische Verantwortlichkeit, wenn sie beschliesst, dass sie von Ansichten ferngehalten werden müssen, die sie zu gefährlichen oder anstosserregenden Überzeugungen verleiten könnten. Wir können unsere Würde als Individuen nur dann wahren, wenn wir insistieren, dass niemand – kein Amtsinhaber und keine Mehrheit – das Recht hat, uns eine Meinung mit dem Argument vorzuenthalten, dass wir nicht fähig seien, sie zu hören und zu beurteilen.»
Indem wir frei über unterschiedliche Meinungen nachdenken und selbst entscheiden, was gut oder schlecht ist, lernen wir, als verantwortliche und unabhängige Staatsbürger zu handeln. Und im Lauf einer solchen Auseinandersetzung bilden Menschen nicht nur ihre eigenen Ansichten heraus, sondern sie beeinflussen auch andere. Die Wahrnehmung unserer moralischen Verantwortung hat also auch eine aktive Komponente, indem wir über unsere Meinungen mit unseren Mitbürgern diskutieren.
Das Konzept der moralischen Autonomie impliziert auch, dass Menschen im Einklang mit ihren Neigungen handeln und einen Lebensstil wählen können, der ihrer Persönlichkeit entspricht. Dworkin fordert, dass «Bürgern ebenso wie das Recht zur politischen Partizipation auch dasjenige zusteht, zur Gestaltung des moralischen oder ästhetischen Klimas beizutragen». Der israelische Philosoph Joseph Raz drückt mit anderen Worten Ähnliches aus: «Autonomie verlangt, dass dem Einzelnen zahlreiche moralisch akzeptable, wiewohl untereinander inkompatible Lebensformen offenstehen.»
Vielerlei Hindernisse
Wertschätzung für die Autonomie ist nicht gleichzusetzen mit einem naiven populistischen Glauben, dass das Volk nicht fehlgehen könne. Millionen Menschen lassen sich von Verschwörungstheorien, Vorurteilen und irrationalen Vorstellungen verführen. Sogar im besten Fall ist die Autonomie des Einzelnen ein Ideal, das nur unvollständig eingelöst werden kann. Menschen leben in einer Welt, die sie nicht selbst gemacht haben, und in Umständen, die der Aspiration zur Selbstbestimmung oft unbarmherzig entgegenstehen. Das Streben nach Autonomie sah sich immer mit Hindernissen konfrontiert – naturgegebenen Beschränkungen, ökonomischen Erfordernissen, Kriegen, Konflikten, sozialen Verwerfungen. Heute leben wir zudem in einem kulturellen Klima, das von tiefem Misstrauen gegenüber dem Verlangen nach Autonomie gesättigt ist.
Zur Unabhängigkeit befähigt
Die Schwierigkeiten, die einer Entwicklung individueller moralischer Autonomie entgegenstehen, stellen dieses Ideal jedoch nicht infrage. Vielmehr sollten demokratische Gesellschaften – gerade im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten – ein Klima schaffen, das für individuelles, soziales und politisches Experimentieren Raum lässt. Sogar in schwierigsten Umständen ist es wichtig, die Annahme nicht aus dem Auge zu verlieren, dass Menschen zur Autonomie fähig sind. Warum? Weil wir, auch wenn wir nicht wählen können, wer wir sind, doch ein bestimmtes Mass an Entscheidungsfreiheit haben, wie wir handeln wollen.
Wie alle freiheitlichen Ideale kann moralische Unabhängigkeit nicht für selbstverständlich genommen werden. Sie muss gelebt und erkämpft werden. Dass Menschen gelegentlich auf dieses Recht verzichten oder eine Wahl treffen, die letztlich gegen ihre Interessen ist, stellt das Prinzip selbst nicht infrage. Das Streben nach Autonomie ist unauflöslich mit der Entwicklung menschlicher Potenziale verbunden. Schon Aristoteles legte dar, dass freies Entscheiden und die nachträgliche Beurteilung von dessen Folgen die Fähigkeit zu einer guten Lebensführung fördern.
Die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit wird heute von Kritikern allzu oft trivialisiert und dem Shopping gleichgesetzt, wo man gerade noch die Wahl zwischen verschiedenen Markennamen hat. Die meisten Leute, heisst es, hätten gar keine reellen Alternativen, und Autonomie sei demzufolge eine Illusion.
Was diesen Kritikern jedoch entgeht, ist die Tatsache, dass das Streben nach Autonomie – egal, wie viele Hindernisse selbstbestimmtem Handeln im Wege stehen – ein essenzieller Bestandteil der Selbstverantwortung ist. Es ist schwierig, sich selbst oder andere für Entscheide zur Rechenschaft zu ziehen, von denen wir meinen, dass der Einzelne sie gar nicht treffen könne. Nur durch die Möglichkeit zum selbstbestimmten Handeln werden wir fähig, Urteile und Entscheide zu fällen und umzusetzen; nur auf dieser Grundlage stehen wir gegenüber anderen in der Verantwortung für unser Tun.
All dies ist jedoch nur möglich im Rahmen einer Gesellschaft, die ihren Bürgern vertraut. Unsere Einstellung zur individuellen Entscheidungsfreiheit hängt letztlich davon ab, ob wir uns als Bewohner eines gemeinsamen moralischen Universums sehen – oder ob wir einander dieses Vertrauen verweigern.
Frank Furedi, 1947 in Budapest geboren, lehrte Soziologie an der University of Kent und ist heute als Buchautor und Kommentator tätig. Der obige Beitrag erschien im Original im Online-Magazin «spiked». Aus dem Englischen von as.
Quelle: NZZ 20170824